Der Kanton Luzern im 20. Jahrhundert

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Titel
Kantonsgeschichte des 20. Jahrhunderts.


Herausgeber
Staatsarchiv des Kantons Luzern
Erschienen
Zürich 2013: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
426 / 316 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Alois Steiner

Die Geschichte des Kantons Luzern ist beinahe vollendet. Eine Reihe von Historikern hat in den letzten 80 Jahren eine enorme Arbeit geleistet, um die Geschichte der Stadt und der Landschaft seit den Anfängen darzustellen. Den Anfang machten die drei Historiker Wilhelm Schnyder, Karl Meyer und P.X. Weber mit dem Band «Von der Urzeit bis zum Spätmittelalter». Das Werk erschien auf die 600 Jahr-Feier des Beitritts der Stadt Luzern in die Eidgenossenschaft von 1332. Der zweite Band schliesst zeitlich an den ersten Band an und behandelt die Reformation und die Gegenreformation. Der Regierungsrat hatte Rektor Sebastian Grüter von der Kantonsschule Luzern die Bearbeitung dieser Epoche übertragen. Das Werk erhielt seine letzte Formung während des Zweiten Weltkrieges und erschien Ende 1945. Gut 30 Jahre später erhielt Hans Wicki, Professor am Zentralschweizerischen Technikum (heute Hochschule für Technik und Architektur) den Auftrag, sich des heiklen Themas der Aufklärung (18. Jhdt.) anzunehmen. Zwei Bände sind während der mehr als zwanzigjährigen Beschäftigung mit dem Thema daraus entstanden.

An die komplizierte und umkämpfte Epoche des 19. Jahrhunderts wagte sich Frau Heidi Bossard-Borner. Drei Bände sind die Frucht der jahrzehntelangen Arbeit mit diesem Stoff: Im Banne der Revolution (1798–1831), erschienen 1998, dann die zwei Teilbände «Im Spannungsfeld von Politik und Religion» (1831–1875) 2008. Nun ist vor kurzem die Darstellung über die Geschichte des Kantons im 20. Jahrhundert erschienen. Es wurde im Unterschied zu den früheren Bänden eine andere Vorgehensweise gewählt. Nicht mehr einem einzelnen Verfasser wurde diese Aufgabe übertragen; eine Gruppe von 23 Historikerinnen und Historiker teilte sich in die anspruchsvolle Arbeit, den Kanton Luzern unter völlig neuen Gesichtspunkten zu beleuchten. Im Folgenden seien einige Themenfelder herausgegriffen, welche einen Bezug zur Religionsgeschichte haben.

Parteien und politisches System: Markus Furrer beschreibt den Weg der politischen Parteien, der vom traditionellen, in den ideologischen Gegensätzen des 19. Jahrhunderts genährten Zweiparteiensystem zum modernen Mehrparteiensystem führte. Anfänglich dominierte der kulturelle Gegensatz zwischen Kirche und Staat (Kulturkampf), zwischen Stadt und Land. Daran schloss sich um die Jahrhundertwende der Links-rechts-Gegensatz (Industriegesellschaft und Klassenkampfschema). Im Umbruch der 1970er Jahre erfolgte eine neue soziale Bewegung im Zeichen einer emanzipatorischen Alternativgesellschaft (Ökologie, Dritte-Welt, Friedens- und Frauenbewegung), alles das vor dem Hintergrund der Europa-Frage und der beschleunigten Globalisierung. In der Stadt Luzern behaupteten die Liberalen ihre hundertjährige Vorherrschaft bis 1958. Damals gelang es den «Vereinigten Minderheitsparteien» die freisinnige Mehrheit in der Stadt zu brechen. Im Kanton gerieten die führenden Konservativen (CVP) unter Druck und verloren die absolute Mehrheit in der Kantonsregierung und im Parlament.

Schule und Bildung: Raffael Fischer untersucht den Problemkreis Schule und Bildung im Kanton. In den harten politischen Gegensätzen zwischen Konservativ und Liberal war das Schulwesen immer ein Zankapfel. Die Lehrerbildung war vor allem eine politische Angelegenheit. Das konservativ dominierte Seminar von Hitzkirch, von Klerikern geführt, stiess um 1900 auf starken liberalen Widerstand, der schliesslich in eine kleine Reform mündete. In der Stadt entstand ein Konkurrenzseminar unter liberalem Vorzeichen. Für die Mädchen, die keinen Zutritt zum Seminar Hitzkirch hatten, wurde das Lehrerinnenseminar Baldegg errichtet. Daneben bildeten die Klöster Menzingen und Ingenbohl ebenfalls Lehrerinnen aus.

Die gymnasiale Ausbildung war fast ganz der sozialen Elite vorbehalten. Die Landbevölkerung hatte Progymnasien zur Verfügung; die oberen Klassen des Gymnasiums wurden vorwiegend an den Ordensgymnasien der Benediktiner und Kapuziner absolviert. Als Hochschule im Raume der Zentralschweiz gab es die Theologische Fakultät, die mit dem Priesterseminar verbunden war. Die gymnasiale Mädchenausbildung war begrenzt. Es gab im Kanton nur das städtische Töchtergymnasium, seine Absolventinnen absolvierten an der Kantonsschule zwei Lyzealjahre, um zur Maturität zu gelangen. Daneben gab es Angebote im Sozialbereich, wo das Kantonsspital und die Klinik St. Anna ihre Krankenschwestern selber ausbildeten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte ein Aufschwung im Bildungswesen ein. 1958 eröffnete das Zentralschweizerische Technikum in der ehemaligen Schindlerschen Liftfabrik in der Sentimatt seine Tore unter gemeinsamer Trägerschaft der Zentralschweizer Kantone. In der Volksschule wurde die Geschlechtertrennung aufgehoben und das 9. Schuljahr eingeführt.

Josef Vital Kopp lancierte 1958 eine Universitätsdiskussion, die über mehrere Phasen zum Plan der «Zentralschweizerischen Universität Luzern» führte. Im Abstimmungskampf 1978 scheiterte die Universitätsvorlage. Erziehungsdirektor Walter Gut sprach von einem «historischen Fehlentscheid», der jedoch am 21. Mai 2000 korrigiert wurde. Mit 78’402 Ja gegen 46’745 Nein wurde die erste weltweit demokratisch an der Urne beschlossene Universität errichtet. Die Universität bezog 2011 das Postbetriebsgebäude an hervorragender Lage hinter dem Bahnhof Luzern. Luzern avancierte mit der Universität, der Hochschule (aus dem ZTL entstanden), dem Medienausbildungsentrum (MAZ) und der Höheren Kaderausbildung der Armee (AAL) zum Bildungszentrum der Zentralschweiz.

Aufbruch und Protestbewegungen: Der Generalstreik von 1918 bewegte die Luzerner Gemüter sehr; einerseits erfolgte der Streik auch in der Agglomeration Luzern und anderseits wurden Luzerner Truppen in den Kanton Zürich aufgeboten. Am 10. November 1918 versuchte ein Detachement eine grosse Menge Demonstrierender auf dem Fraumünsterplatz in Zürich mit Warnschüssen, in die Luft abgege-ben, zu vertreiben. Dabei wurde Füs. Sales Vogel aus Pfaffnau tödlich getroffen. Er wurde im Hinterland als Held gefeiert, die Streikenden galten als Mörder. Als Reaktion auf den Generalstreik entstanden fast flächendeckend sog. Bürgerwehren. Die Arbeiterschaft spaltete sich in eine katholische und eine sozialdemokratische Richtung.

Die katholische Jungmännerbewegung, geführt vom späteren Prälaten Dr. Josef Meier und dem Laienführer Eugen Vogt, veranstaltete 1933 die grosse Zuger Jungmannschaftstagung (ZUJUTA) mit über 20'000 Teilnehmern. Die Gründung der Jungwacht als katholische Schülerorganisation errang eine weite Verbreitung. Auch der Schweizerische Studentenverein (StV) erlebte einen grossen Aufschwung. Die Mädchenorganisation des Blauring, als Vorstufe der Jungfrauenkongregation, verbreitete sich rasch.

Nach dem Zweiten Weltkrieg tauchte die Frage des Frauenstimmrechts auf. Der Schweizerische Katholische Frauenbund (SKF) entzog sich in staatsbürgerlichen Fragen zunehmend der bischöflichen Bevormundung. Anlass war eine Ansprache von Pius XII., der die wahlberechtigten Italienerinnen aufrief, an die Urnen zu gehen. Unter der Führung von Frau Dr. Blunschy-Steiner gelang es schliesslich, den Widerstand der Frauenstimmrechtsgegner zu brechen. 1970 wurde das Frauenstimmrecht auf kantonaler Ebene eingeführt. In der Politik konnte sich die dominierende CVP lange halten; gegen Ende des 20. Jahrhunderts gingen die Anteile der CVP und der Liberalen stark zu-rück; die neue Kraft der SVP wuchs stark an, was zur Folge hatte, dass der bisherige politische Antagonismus an Bedeutung verlor. Der Einfluss der Kirche ging stark zurück, singuläre kirchliche Akte wie Taufe, Erstkommunion, Firmung, Heirat und Begräbnis hielten sich. Die konfessionellen Gegensätze begannen sich einzuebnen.

Alltagswelten: Äusserst aussagekräftig sind die Interviews mit Frauen, die die rasante Entwicklung im Haushalt in den letzten Jahrzehnten erlebt und mitgemacht haben. Entscheidender Fortschritt war die Einführung der Elektrizität in den Haushaltungen, was nach und nach die Einführung von Waschmaschinen, Abwaschmaschinen etc. ermöglichte. Während des Ersten Weltkrieges war die Vorsorge der Behörden in der Lebensmittelzuteilung ungenügend. Im Zweiten Weltkrieg sorgten die Behörden besser vor. Dank der Einführung der Lebensmittelkarten brauchte die Bevölkerung nicht zu hungern. Der Plan «Wahlen» mit der Anbauschlacht ermöglichte ein besseres Überleben.

Geselliges Leben und Kultur: Theater wurde seit dem 19. Jahrhundert sowohl in der Stadt wie auf dem Lande gespielt. Wichtig war auch die Fasnacht als Abwechslung im Alltag. Luzern war hier mit Bruder Fritschi führend. Fasnachtsgesellschaften sorgten für Umzüge und Festlichkeiten. 1948 entstand in Luzern unter Sepp Ebinger die erste Guggenmusik, die sich explosionsartig ausbreiteten und heute weitgehend das Fasnachtsgeschehen in der Stadt und in vielen Dörfern kennzeichnen. Gesangs-, Musik- und Turnvereine prägten das kulturelle Leben, häufig nach parteipolitischen Kriterien getrennt. Dank dem Militär hielten die Schützenvereine eine grosse Rolle, da sie in die Sicherstellung der Wehrhaftigkeit eingebunden waren.

In den Zwanzigerjahren entdeckten katholisch-konservative Kreise die Kultur als Instrument der Mission. Pius XI. veröffentlichte 1922 seine Enzyklika «Ubi arcano», worin er die «Katholische Aktion» als Gegenkraft zur sozialistischen Bewegung propagierte und eine innerkirchliche Erneuerung anregte. In diesem Zusammenhang ist auch die Gründung der Lukasgesellschaft zur Förderung der zeitgenössischen katholischen Kunst zu sehen. Der Megger Pfarrer Alois Süess war deren erster Präsident. Er förderte mit zahlreichen bedeutenden Architekten den modernen Kirchenbau wie St. Karl und St. Joseph in Luzern, St. Theodul in Littau und ebenso die Zentralbibliothek in Lu¬zern. Im gleichen Sinne wirkte die 1907 gegründete und 1919 neu konstituierte Gesellschaft für christliche Kultur in Luzern mit Vorträgen und andern Veranstaltungen. Schon früh erstrahlte der Ruhm des Künstlers Hans Erni, der das berühmte Landibild 1939 schuf. In der Nachkriegszeit wurde er scharf angefeindet und später rehabilitiert.

Berühmt wurden die 1938 gegründeten Internationalen Musikfestwochen, die sich zu einem der angesehensten Festival entwickelten und nach 1945 zum Aufblühen des Fremdenverkehrs beitrugen. Berühmte Dirigenten wie Wilhelm Furtwängler und Herbert von Karajan begründeten den internationalen Ruf des Festivals. Einen Gegenpol zu den IMF (heute Lucerne Festival) bildete die Alternativkultur rebellischer Jugendlicher mit Jugendtreffs (Wärchhof, Schüür und Sedel). Werner Fritschi versuchte hier, vermittelnd zwischen Etablierten und Aufmüpfigen zu vermitteln. Der Jazz in der Innerschweiz wurde schon früh populär. Der Jazzklub in Luzern (gegründet 1949) und die Jazzkonzerte in Willisau (Initiant der Grafiker Niklaus Knox Troxler) propagierten die neue Musikrichtung. Emil Steinberger wirkte als erfolgreicher Kabarettist und Kleintheater-Begründer und trug Luzerner Kultur weit über die Grenzen unseres Landes hinaus. Nicht zuletzt dank breiter Akzeptanz konnte das KKL in Luzern gegen Ende des letzten Jahrhunderts realisiert werden, ein Ereignis, das über Luzern hinausstrahlt.

Reiche Geschichtskultur: Mit der Kultur zwischen Enge und Aufbruch sowie der Luzerner Geschichtskultur beschäftigen sich Martina Akermann und Guy P. Marchal, während Markus Ries seinen Blick auf die Kirchen und Religionen richtet. Max Huber beschreibt die Luzerner Medienlandschaft, während Kurt Messmer in einem historischen Essay den Kanton Luzern im 20. Jahrhundert nachzeichnet. Zehn regionale historische Vereine betreiben eine reichhaltige Geschichtskultur mit Vorträgen und Publikationen. Daneben sorgen das Staatsarchiv und weitere Archive und Museen für das historische Gedächtnis. Jubiläen wie die Sempacher Schlachtfeier 1886, Jubiläumsfeiern wie 1932 und 1982 (Luzerner Beitritt zur Eidgenossenschaft), das 800 Jahr-Stadtjubiläum (1978) sorgten für festliche Gedenktage. Aber auch der Museggerumgang oder die berittenen Flurumgänge zu Christi Himmelfahrt (Auffahrtsumritte) sind tief in der Bevölkerung verankert und überlebten teilweise die stürmischen Veränderungen der 1970er Jahre. Die Landschaft wurde z.T. seit Jahrhunderten mit Kapellen sowie mit Weg- und Feldkreuzen gekennzeichnet. Ruswil zählt gegen 140 solcher Zeichen von Frömmigkeit.

Kirchliche Entwicklung: Ein entschei-dender organisatorischer Schritt war 1969 die stark kritisierte Errichtung einer eigenen «Landeskirche» (im Grunde genommen ein Zusammenschluss der Kirchgemeinden). Sie führte die Aufsicht über die Kirchgemeinden ein und realisierte den Finanzausgleich unter den Kirchgemeinden. Im Verlaufe des 20. Jahrhunderts wurden zahlreiche «fremdsprachige Missionen» eingerichtet. Diese Seelsorgestationen und Personalpfarreien reichen in ihrer Bedeutung weit über das Religiöse und Kirchliche hinaus. Sie fördern den Gruppenzusammenhalt und die Kontakte zu den Herkunftsländern.

Kritik und Lob: Es ist ein eindrückliches, materialreiches Werk über den Kanton Luzern entstanden, das viele neue und teilweise ungewohnte Aspekte aufzeigt. Den 23 Autoren darf ein Kompliment für ihre grosse Arbeit ausgesprochen werden. Trotzdem sei es erlaubt, auf einige Schwachstellen hinzuweisen. Die Darstellungen der Autoren sind nicht immer aufeinander abgestimmt. Wiederholungen häufen sich; man spürt deutlich, dass eine kraftvoll leitende Chefredaktion gefehlt hat. Eine weitere Schwachstelle ist z.T. die fehlende Gliederung. Es ist nicht einzusehen, dass die beiden markanten Einschnitte in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, der Erste und der Zweite Weltkrieg, nicht als eigene Kapitel behandelt worden sind. Die Übersicht und die Lesbarkeit wären bestimmt verbessert worden. Eine immer wiederkehrende Bemerkung ist die angebliche Nähe der katholischen Jugendverbände zur Nazibewegung in den Dreissigerjahren. Wenn man die einschlägige Literatur gelesen hätte (Joseph Jung, Katholische Jugendbewegung der deutschen Schweiz, Freiburg 1988, 295 und 367f), würden solche Bemerkungen von selbst verschwinden. Was die Bildauswahl betrifft, so sind die ganzseitigen Bilder eindrucksvolle Zeitdokumente. Leider erfüllen die kleineren Bilder diesen Anspruch nicht immer. Trotz diesen kritischen Bemerkungen darf den Verfassern ein verdientes Lob gespendet werden.

Zitierweise:
Alois Steiner: Rezension zu: Staatsarchiv des Kantons Luzern (Hg.), Der Kanton Luzern im 20. Jahrhundert, Band 1 und 2, Zürich, Chronos Verlag, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 108, 2014, S. 560-564.